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ARTE und die Etrusker

Kritik der Dokumentation vom 15. Juni 2002


1. Teil: Grundlagen



Wo immer der Begriff "Etrusker" auftaucht, wird er unvermeidlich mit dem Klischee "rätselhaft" und "Geheimnis" garniert -- ebenso unvermeidlich, wie die Archäologie mit dem Beiwort "Abenteuer" geschmückt zu werden pflegt. So spricht auch die von ARTE gesendete Dokumentation schon in den ersten Sätzen von den "Geheimnisse(n) dieses in Vergessenheit geratenen Volkes" und von einem "archäologische(n) Abenteuer". Und tatsächlich: der ARTE-Film ist abenteuerlich -- wie sehr, wird sich im folgenden zeigen.

Die Tatsachen, wie sie von ARTE präsentiert werden:

Vor der Küste von Südfrankreich wurde im Herbst des Jahres 2000 ein mit Hunderten von etruskischen Amphoren beladenes antikes Schiffswrack entdeckt und erforscht, das möglicherweise für damalige Verhältnisse besonders groß (20 x 10 m) war, und dessen Alter anhand der Ladung auf etwa 2500 Jahre (die ARTE-Dokumentation spricht in konsequenter Verfälschung von 2600 Jahren) geschätzt werden kann. Neben den Amphoren wurden noch zugehörige Verschlusskorken, 40 Bronze-Trinkschalen und ein (griechischer? -- Zitat: "das ist eine griechische Schale, sehr häufig in Etrurien") Askos gefunden, der im Fuß eine vielleicht als Inschrift zu verstehende Ritzung trägt. Soweit nachprüfbar, waren die Amphoren mit Wein gefüllt.

Die Daten, die der Film angibt, sind etwas mysteriös: wenn die Zeitangabe "im Oktober 2000, einen Monat nach der Entdeckung des Fundorts" für die Sondierungsgrabung zuträfe, müßten die Redakteure des Archaeology Magazine mit hellseherischen Fähigkeiten gesegnet sein: das Magazin berichtete bereits im Juni 2000 über die Entdeckung des Wracks und stellte es als einen Zufallsfund dar, der bei einer Unterwassersuche nach dem verschollenen Flugzeug des französischen Dichters Antoine de Saint-Exupéry gemacht wurde.

Eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse:

Die Amphoren waren stapelbar und wurden nach dem Stapeln mit einem Seil fixiert -- wie Schadstellen an den Wölbungen und Einkerbungen auf den Henkeln beweisen. Zweifellos ist damit ein wichtiges Geheimnis der Etrusker der Vergessenheit entrissen worden.

Die Schlussfolgerungen des Grabungsleiters (im folgenden GL):

  1. das Schiff war etruskisch
  2. das Schiff war unterwegs nach Lattes, einem Lagunenhafen südlich von Montpellier
  3. Lattes war ein etruskischer Handelsstützpunkt, wo Etrusker sich auf Dauer niederließen, um den Galliern etruskischen Wein und etruskische Trinksitten zu vermitteln.


Keine dieser Schlussfolgerungen ist zwingend. Denn:

  1. Ein Schiff, das Shanghai mit einer Ladung chinesischen Tees verlässt, ist deswegen noch kein chinesisches Schiff.
  2. Wenn es vor der Südspitze Afrikas sinkt, muss das nicht heißen, dass es seine Ladung in Kapstadt löschen wollte.
  3. Selbst wenn Archäologen in 2000 Jahren in Kapstadt eine Menge chinesischer Teeurnen ausgraben sollten, macht das aus Kapstadt nicht einen von Chinesen begründeten chinesischen Handelsstützpunkt.
Im vorliegenden Fall berechtigt die um 500 v.Chr. bereits jahrhundertelang florierende Präsenz griechischer Kolonien in Italien und Südfrankreich durchaus zu der Vermutung, dass die etruskische Ladung von einem griechischen Schiff transportiert wurde. Wie naheliegend diese -- dem GL äußerst unliebsame -- Vermutung ist, zeigt die unrühmliche Rolle, die den Griechen während des gesamten Films zugewiesen wird.

Fazit: der GL bewegt sich mit seinen Schlussfolgerungen auf dem Gebiet der Spekulation, wo der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind, und wenn wir gar seine vollkommen willkürliche Aussage angesichts der griechischen "Schale" -- nämlich: "die gehörte einem Seemann" -- in Betracht ziehen: wer wollte uns da noch die farbenfrohe Hypothese verbieten, dass hier eine griechische Besatzung unter dem Kommando eines etruskischen Kapitäns auf einem gekaperten phönizischen Schiff nach Spanien unterwegs war?

Spekulation bleibt besonders die etruskische Besiedelung von Lattes. Als Beweise dafür werden gewertet

1. zerscherbte Amphoren, die in einem Lagerraum von Lattes gefunden wurden.

Aber: es muss betont werden, dass das Auftauchen von Amphorenscherben in Gallien nirgendwo verwunderlich ist, wo importierter Wein konsumiert wurde. Dass der Wein nach Gallien gebracht wurde, um von Galliern mit welchen Mitteln auch immer erworben zu werden, setzt der GL ansonsten explizit voraus. Will er nun behaupten, dass etruskischer Wein in Gallien nur von Etruskern getrunken wurde?

2. ein Graffito im Fuß einer Tonschale, das in folgendem Dialog (zwischen zwei Archäologen!) als etruskisch präsentiert wird:

M. Py: Diese Stücke (gezeigt wird nur ein einziges Stück, Anm. d. Verf.) sind deshalb interessant, weil sie Graffitis (sic!) enthalten. --
GL: Ja, da sind Einritzungen. --
M. Py: Sie nennen wahrscheinlich den Besitzer des Objekts. --
GL: Wenn das Etruskisch ist, was bedeutet das? Schrieben das Einheimische oder dort (gemeint ist wohl Lattes, Anm. d. Verf.) lebende Etrusker? --
M. Py: Höchstwahrscheinlich schrieben das Etrusker, die dort lebten. --
GL: Unglaublich! --
M. Py: Das beweist eine Präsenz der Etrusker. Nicht nur ihren Einfluss, sondern ihre Präsenz. Denn eine Schrift wird nicht so schnell gelernt. Und solche Zeugnisse finden sich nirgendwo sonst in Gallien.

Eine Skizze
des Graffito


So sieht ein Beweis aus, der die Prinzipien von Radio Eriwan konsequent anwendet.

1. Der Fundort eines Gefäßes -- besonders, wenn es ein frequentierter Handelshafen ist -- muss nichts darüber aussagen, wo die auf dem Gefäß befindliche Ritzung entstanden ist. Das kann Hunderte von Meilen entfernt geschehen sein.

2. Eine etruskische Besitzinschrift, die den Namen des Besitzers im Genitiv, günstigenfalls unter Voranstellung eines mi (= "ich (bin)") nennen müsste, ist auf dem Objekt nirgends erkennbar.

3. De facto ist überhaupt keine Schrift erkennbar. Mit äußerster Anstrengung könnte man das rechte Zeichen für ein verunglücktes etruskisches e oder v oder k halten, das für sich allein natürlich keinen Sinn ergäbe. Das linke Zeichen aber gleicht keinem etruskischen Buchstaben.

4. Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt hier eine sogenannte Handelsmarke vor: eine im antiken Warenverkehr häufig gebrauchte, Händler oder Hersteller charakterisierende individuelle Chiffre, deren genauen Zweck man nicht kennt. Vorstellbar ist z.B., dass sie von Zwischenhändlern angebracht wurde, um die Waren unterschiedlicher Zulieferer auseinanderzuhalten. Da es sich nicht um Schriftzeichen, sondern um eine graphische Kennzeichnung handelt, ist eine ethnische Zuordnung in der Regel nicht möglich. Feststehen dürfte jedoch, dass es sich um einen internationalen und keineswegs typisch etruskischen Kaufmanns-Usus gehandelt hat.
Dass ein Archäologe, der sich vorzugsweise mit antiken Scherben befaßt, nichts von der Existenz solcher Handelsmarken weiss, ist kaum denkbar. Wenn die naheliegendste Einordnung des Graffito hier unerwähnt bleibt, ist das folglich ein Zeichen von Inkompetenz oder eine bewußte Verfälschung der Sachlage.

5. "Solche Zeugnisse finden sich nirgendwo sonst in Gallien": auch diese Behauptung ist entweder eine in ihrer Dreistigkeit haarsträubende Lüge oder ein Zeugnis ebenso haarsträubender Inkompetenz.
Um das sensationellste Beispiel zu nennen: 1998 wurde in den CRAI (= "Comptes rendus de l'Académie des Inscriptions et Belles Lettres"; zu deutsch: "Berichte der Akademie für Inschriften und Literatur") eine Inschrift publiziert, die in Montmorot im französischen Jura -- also relativ weit nördlich -- gefunden worden war: vier lesbare etruskische Buchstaben, die allerdings kein bekanntes etruskisches Wort ergeben, sondern nach Meinung von Stéfane Verger, der die Inschrift publiziert hat, einen abgekürzten gallischen Namen (möglicherweise aber auch -- das ist meine Vermutung -- das keltische Wort für "Burg"). Stéfane Verger datiert diese Inschrift auf die erste Hälfte des 6. Jh. v. Chr.; sie wäre demzufolge ungefähr hundert Jahre älter als das angeblich etruskische Schiffswrack.

Zur Beachtung: Die CRAI sind kein x-beliebiges Hintertreppenblättchen, sondern die erste Adresse für jedermann, der sich forschungshalber über in Frankreich gefundene Inschriften informieren möchte. Die betreffende Inschrift wurde dort auch nicht etwa mit einer kurzen Notiz abgetan, sondern auf dem umfassenden Raum der Seiten 619 bis 632 ausführlich behandelt.

Wer also nach 1998 -- und der ARTE-Film ist zweifellos später entstanden -- behauptet, in Gallien gäbe es keine frühen etruskisch geschriebenen Inschriften, behauptet das entweder, weil er sich nicht informiert hat, oder er lügt, weil er sich informiert hat.
Beides -- entweder: sich nicht kundig gemacht zu haben, oder: einen wissenschaftlichen Gegenbeweis bewußt zu verschweigen, weil er die eigene Hypothese ins Wanken bringt -- ist für einen Wissenschaftler ebenso disqualifizierend wie ein positiver Dopingtest für einen Sportler.

Nachtrag: Ob die Etrusker in Lattes gesiedelt haben oder nicht, ist für den Verfasser dieser Seite nicht von Bedeutung. Er wird es gern als Tatsache anerkennen, sobald ihm schlüssige Beweise in Form von Immobilien (d.h. etwa etruskische Mauerstrukturen oder gar Grabanlagen), gezeigt werden. Solange hier aber mit unhaltbaren Behauptungen operiert wird und mit Argumentationsketten, in denen ein "interessant", ein "wahrscheinlich", ein "wenn" und ein "höchstwahrscheinlich" -- die allesamt Nichtexistentes als Gegebenheit darstellen -- plötzlich einen "Beweis" ergeben, fällt es ihm schwer, nicht das Wort "Betrug" zu gebrauchen. Denn tatsächlich geht es hier um mehr als die Eitelkeit des GL.

Frage: worum geht es? -- Antwort: Erstens, um Forscher-Frust. Zweitens, um Forschungs-Gelder.

Forscher-Frust: Für den Kurator eines Marseiller Museums -- das ist der GL im Hauptberuf -- stellt die Bergung und Erforschung eines antiken Schiffswracks eine einmalige Chance dar. Tatsächlich hat es mehr als einen aufsehenerregenden Fund dieser Art im Mittelmeer gegeben: Wracks, die echte "Schätze" enthielten -- am spektakulärsten war wohl das Wrack von Uluburun. Machen Sie sich klar, was der Ausgräber empfindet, wenn er einsehen muss, dass "sein" Wrack nicht zu dieser Sorte gehört. Wenn in 2000 Jahren ein Archäologe einen Müllcontainer des 20. Jhdts auf dem Meeresgrund findet, kann er das, verglichen mit dem Wrack der ARTE-Dokumentation, für eine glorreiche Entdeckung halten -- denn der Müll dürfte wenigstens noch bunt gemischt sein und historisch aufschlussreiche Erkenntnisse über das Alltagsleben der Epoche zulassen. Das Wrack der ARTE-Dokumentation dagegen enthält massenhaft Einwegverpackungen der Antike und kaum etwas sonst -- Hunderte von Amphoren desselben Typs, und eines Typs, der schon vor der Entdeckung des Schiffs sattsam bekannt war. Ein solcher Fund kann bestenfalls noch als interessant eingestuft werden, aber gewiss nicht als sensationell, und wissenschaftlich ist damit kein Staat zu machen.
Was wird der GL in einer solchen Lage tun? Nun, natürlich alles, was in seiner Macht steht, um die Bedeutung des Fundes aufzuwerten. Denn

Forschungsgelder sind nicht einfach aufzutreiben, und bestimmt nicht für eine unspektakuläre Entdeckung wie diese. Die Konkurrenz ist groß (einen Überblick kann man sich z.B. hier verschaffen). Die ARTE-Dokumentation spricht es deutlich aus: der GL benötigt Unsummen, um die Grabung zuende zu führen. Seine Vorgehensweise, den Fund mit Hilfe unangebrachter Superlative und wackliger Hypothesen in einen epochalen zu verwandeln, um zahlungskräftige Investoren anzulocken, ist daher zwar nicht legitim, aber doch verständlich.

Weniger verständlich und keinesfalls legitim ist, dass ein angeblicher "Kultursender" wie ARTE ihn bei diesen Bestrebungen unterstützt, indem er einen Film ausstrahlt, der nicht einmal vor Geschichtsverfälschungen zurückschreckt.

Lesen Sie dazu bitte den zweiten Teil.

Herkunft
der Etrusker
Grammtik:
Überblick
Wortschatz:
 eine Liste
Ortsnamen  


Zur Person des Verfassers: Dieter H. Steinbauer hat sich 1993 an der Universität Regensburg mit einer umfangreichen Untersuchung und Darstellung der etruskischen Grammatik habilitiert, deren überarbeitete Fassung als Neues Handbuch des Etruskischen, Scripta Mercaturæ Verlag, St. Katharinen 1999, ISBN 3-89590-080-X im Handel erhältlich ist. Er lehrt als Privatdozent Indogermanische Sprachwissenschaft an der Universität Regensburg und hat an den Universitäten Wien, München und Zürich (PDF-Dokument -- der Eintrag findet sich auf Seite 3) Gastvorlesungen bzw. -seminare zur etruskischen Sprache abgehalten. Sein Schriftenverzeichnis kann hier eingesehen,
sein Aufsatz "Zur Grabinschrift der Larthi Cilnei aus Aritim / Arretium / Arezzo"; in: ZPE 121 (1998), 263-281, als PDF-Dokument hier heruntergeladen werden.
(lassen Sie sich bitte durch zwei leere Seiten zu Beginn nicht abschrecken).

Disclaimer: zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie bitte -- oh, pardong. Was ich sagen wollte, war:
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